Viele Branchen leiden unter einem Fachkräftemangel. So auch der Informationstechnologiebereich (IT), wo mehr Spezialist:innen gesucht werden, als der Markt hergibt. Alternative Lösungen sind daher dringend gesucht. Eine Möglichkeit für Schweizer Firmen bietet das Nearshoring. Dabei werden ergänzende Arbeitsleistungen im Ausland eingekauft, wobei die Mitarbeiter:innen Teil des Unternehmens sind. Die Schweizerische Post hat als Ergänzung zu ihren laufenden Massnahmen entschieden, IT-Kapazitäten in Portugal gezielt aufzubauen, die sie nicht in genügender Anzahl in der Schweiz findet. Weshalb nun auch PostFinance Teil des IT-Campus Lissabon wird, erklärt Projektleiter Andrea Filippelli.
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Mit Nearshoring dem IT-Fachkräftemangel entgegenwirken
Der Fachkräftemangel stellt die Schweizer IT-Branche vor eine grosse Herausforderung. PostFinance wagt daher den Schritt ins Ausland. Was sie sich vom Nearshoring erhofft, erklärt Projektleiter Andrea Filippelli.
Andrea Filippelli arbeitet seit 2018 bei PostFinance. Er war Projektleiter Informatik bei der Einführung der QR-Rechnung und später Product Owner im Bereich Platform Business. Heute ist er Gesamtprojektleiter des Nearshoring-Projekts. Privat interessiert sich Andrea für Politik und Wirtschaft, und er beschäftigt sich mit disruptiven Technologien und deren Wirkung auf unser soziokulturelles Umfeld.
Andrea, wie die ganze IT-Branche hat auch PostFinance mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen. Was macht PostFinance dagegen?
Einerseits geht das HR neue Wege. People Attraction Managers forcieren das Employee Branding und betreiben ein Talent Relationship Management. Andererseits haben wir uns gefragt, was wir punktuell und als Ergänzung zu den Personalgewinnungsmassnahmen in der Schweiz im IT-Bereich noch machen können, zum Beispiel, ob eine Partnerschaft oder der Gang ins Ausland eine mögliche Option wären. Uns war wichtig, eine langfristige Lösung zu finden.
PostFinance hat sich für eine Partnerschaft mit dem IT-Campus in Lissabon entschieden. Wie kam es dazu und was verspricht sich PostFinance vom Nearshoring?
Nicht nur PostFinance kämpft mit dem IT-Fachkräftemangel, sondern auch der Postkonzern, der in Lissabon einen Campus aufgebaut hat. Wir haben daher eine Zusammenarbeit geprüft und uns dafür entschieden, da Portugal einerseits als OECD-Land viele unserer Anforderungen – wie geopolitische Sicherheit, Compliance oder Datensicherheit – erfüllt und andererseits den Technologiebereich stark unterstützt. Lissabon entwickelt sich gerade zu einem Tech-Hotspot. Wir denken, dass das Nearshoring der richtige Weg ist, um in den nächsten fünf Jahren sukzessive nachhaltig zu wachsen und dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Welche Spezialist:innen werden für den IT-Campus gesucht?
Aktuell suchen wir Softwareentwickler:innen, Business Analyst:innen und Fachpersonen im Test Engineering. Der Rekrutierungsprozess läuft. Erste Interviews mit qualifizierten Leuten wurden geführt. Entscheidend ist aber nicht nur das fachliche Know-how. Die künftigen Mitarbeiter:innen müssen auch die Kultur und Werte von PostFinance teilen.
Wie sieht der IT-Campus aus und wie ist er organisiert?
Der modern ausgebaute Campus liegt in einem schönen, ruhigen Quartier in Parknähe. Im Campus arbeiten verschiedene IT-Fachbereiche interdisziplinär zusammen. Unsere Ambition ist es, bestehende Arbeitsgruppen in der Schweiz zusätzlich mit IT-Fachkräften in Lissabon zu erweitern und zu verstärken. Bei der Zusammenarbeit der beiden Standorte sehen wir kein Problem. Wir sind schon länger sehr agil unterwegs und viel läuft virtuell. In den einzelnen Projektteams werden daher Fachkräfte aus Bern und aus Lissabon arbeiten. Zurzeit sind wir aber noch in der Projektphase. Offiziell starten wir im Herbst 2023.
Wie wirkt sich das Nearshoring-Projekt auf Partner und Mitarbeiter:innen in Bern aus?
Das Nearshoring hat keinen Einfluss auf unsere Partner. Alle bestehenden Partnerschaften bleiben bestehen. Unsere Mitarbeiter:innen in der IT können bald von der Unterstützung profitieren. Für sie wird die grösste Herausforderung vermutlich die Sprache sein, denn mit dem offiziellen Start wollen wir im IT-Bereich Englisch als gemeinsame Sprache Schritt für Schritt ausbauen. Fordernd können aber auch kulturelle Unterschiede sein. Es braucht auf allen Seiten Respekt und Toleranz.
An welche kulturellen Unterschiede denkst du dabei, und was trägt PostFinance zur guten Zusammenarbeit bei?
Es gibt zum Beispiel unterschiedliche Arbeits- und Rahmenbedingungen. Portugies:innen haben einen grossen Berufsstolz und stellen hohe Anforderungen an sich selbst. Grundsätzlich sollten wir uns immer überlegen, wie Leute aus einer anderen Kultur auf etwas reagieren könnten. Ich hoffe, dass die Teams in Bern offen sind für die Kulturunterschiede, in den Austausch gehen und ihre Kolleg:innen aus Lissabon in die PostFinance-Familie aufnehmen. Zur Förderung der interkulturellen Zusammenarbeit werden wir Botschafter:innen aufbauen. Dazu werden wir die Arbeitskolleg:innen in Lissabon auch mal in die Schweiz einladen und umgekehrt unsere Mitarbeiter:innen nach Portugal entsenden. So erhalten beide Einblick in eine andere Kultur und können ihre Erkenntnisse weitergeben.
Was ist der Unterschied zwischen Outsourcing, Offshoring und Nearshoring?
Outsourcing
Beim Outsourcing werden bestimmte Aufgaben oder Projekte an Drittunternehmen vergeben. Mit der rechtlich-organisatorischen Auslagerung übernehmen die – meist mit einem Dienstleistungs- oder Werkvertrag – beauftragten Firmen die Verantwortung für den definierten Auftrag und setzen ihn gemäss Vorgaben um. Outgesourct wird gerne in den Bereichen Beratung, IT, Kundenservice sowie Marketing und Vertrieb.
Offshoring
Beim Offshoring werden insbesondere Produktions- und Fertigungsstätten, aber auch Dienstleistungen wie Callcenter-Tätigkeiten ins ferne Ausland ausgelagert, um von einem deutlich günstigeren Lohnniveau zu profitieren. In der Modebranche ist Offshoring schon viele Jahre verbreitet.
Nearshoring
Beim Nearshoring werden unternehmerische Funktionen in Nachbarländer oder ins nahe Ausland ausgelagert. Bei Schweizer Firmen sind nebst Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich generell Länder in Mittel- und Südeuropa beliebt. Während es beim Offshoring mehrheitlich nur um die Kosten geht, steht beim Nearshoring oft die Arbeitskraft im Vordergrund. Insbesondere der IT-Bereich will mit Nearshoring dem Fachkräftemangel begegnen.
Was waren deine persönlichen Challenges und was wünschst du dir?
Die ganzen rechtlichen Aspekte sind sehr herausfordernd. Ebenso Nearshoring nicht als Lösung für alle Probleme zu verstehen, sondern als eine Koexistenz zum lokalen Arbeitsmarkt aufzubauen und nachhaltig zu entwickeln. Ansonsten sehe ich es als grosse Bereicherung, neue Welten kennenzulernen. Ich hoffe, dass alle viel Geduld und Einfühlungsvermögen mitbringen, ihre Erwartungshaltung anpassen, Beziehungen aufbauen und von den anderen Impulsen profitieren. Und ich wünsche mir, dass wir die Werte von PostFinance beim IT-Campus Lissabon einbringen können.
Fazit: Nearshoring hilft gegen den Fachkräftemangel
Deutschland und Österreich setzen schon eine Weile auf das Konzept Nearshoring. Und das recht erfolgreich. Kein Wunder, entdecken auch immer mehr Schweizer Unternehmen die Vorzüge. Da die Gesamtkosten in der Regel aber nicht wesentlich geringer sind, wird Nearshoring selten zur Kostensenkung eingesetzt. Vielmehr hilft es, dringend benötigte Fachkräfte zu finden. Diese Chance gilt es zu erkennen und zu nutzen.
Drei Vorteile von Nearshoring
Kultur
Natürlich gibt es Unterschiede, aber innerhalb von Europa entstehen weniger Probleme aufgrund der Herkunft als zum Beispiel in der Zusammenarbeit mit asiatischen Ländern.
Sprache
Die Sprachbarrieren sind weniger gross, als man vielleicht vermutet. Viele – insbesondere junge – Europäer:innen sprechen hervorragend Englisch. In Osteuropa oftmals sogar Deutsch.
Distanz
In Europa beträgt die maximale Zeitverschiebung zwei Stunden. Bei der Arbeitszeit bestehen so keine grossen Unterschiede. Aufgrund der geografischen Nähe sind zudem auch persönliche Meetings einfacher umsetzbar.